Reto Giger: Viel Zeit für Volleyball – aber auch für Kochen, Piano spielen oder «Gamen»

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Der Nationalpasseur Reto Giger spielt bei Radom, in der höchsten Liga von Weltmeister Polen. Nach zwei Heimsiegen setzte es am Samstag eine 0:3-Niederlage auswärts in Katowice ab. Mitte des ersten Satzes verletzte sich Stammpasseur Vincic, worauf der Schweizer eingewechselt wurde und durchspielte. Und beinahe hätte Reto Giger noch die Wende herbeiführen können, doch schliesslich ging nach dem zweiten auch der dritte Satz verloren – mit 29:31. Dennoch ist Radom weiterhin auf Playoff-Kurs.

Reto Giger hat Schweissperlen auf dem Gesicht. Für einmal nicht vom Volleyball, sondern vom Kochen. Er hat ein bisschen viel Chili erwischt für sein Mittagsmenü, ein Red Thai Curry, mit viel gesundem Gemüse. Kochen ist ganz offensichtlich angesagt bei unseren Auslandprofis, haben doch schon Maja Storck und Laura Unternährer bei den Besuchen von Swiss Volley leckere Speisen kredenzt. «Das Essen auswärts hier in Polen ist zwar sehr günstig und schmeckt mir gut, aber wenn ich selber koche, weiss ich genau, was drin ist», meint der gesundheitsbewusste Informatiker, der Fleisch und Poulet meist beim lokalen Metzger einkauft. Nebst der asiatischen Küche sind auch Hörnli mit Gehacktem und Älplermagronen Trumpf. Womit wir bei dem wären, was er hier in Polen seit Ende August vermisst: «Das knusprige Schweizer Brot und die Natur. Ich würde sehr gerne zwischendurch wieder mal in die Berge und den Schnee gehen.»

Komfortable Wohnung...

Ansonsten hat sich der 27-jährige Aargauer sehr gut eingelebt in Radom, einer ehemaligen Industriehochburg mit rund 200'000 Einwohnern, 100km südlich von Warschau gelegen. Es gibt noch hunderte von klassischen Ostblock-Wohnsiedlungen, die dringend einer Renovation bedürften. In der Nähe des durchaus schmucken Zentrums verfallen Häuser, deren Bausubstanz sich zu erhalten lohnen würde. Der Stadt mit der hohen Arbeitslosigkeit fehlt es allerdings an Mitteln.

Umso mehr ist man erstaunt über die komfortable Wohnsituation von Nationalteam-Passeur Reto Giger, der in einer topmodernen Neubausiedlung in einer grosszügigen Einzimmerwohnung mit Balkon wohnt. Er sieht direkt auf einen Kirchturm, was im katholischen Polen bedeutet, dass den ganzen Sonntag über Kirchenglocken bimmeln und Gebetsgemurmel der verschiedenen Messen herüberdringt.

Im Gegensatz zur Hauptstadt Warschau ist hier in Radom, ausser am Wochenende, nicht viel los. «Es war mir sehr wichtig, dass ich mich wohl fühle in meiner Wohnung, wo ich viel Zeit verbringe», sagt Giger, dem dieser Komfort monatlich 100 Euro aus dem eigenen Sack wert ist. Also das, was den vom Klub zugestandenen Mietbetrag übersteigt.

...und viel freie Zeit

Heute geniesst Reto Giger einen lockeren Tag. «Hier gilt noch das alte Ostblock-Prinzip: Wenn wir verlieren, dann wird am nächsten Tag länger und härter trainiert. Aber wenn wir gewonnen haben, ist meist trainingsfrei», schmunzelt er. So hat er sich am Morgen im Aquapark eines Sponsors erholt. Und nach dem scharfen Mittagessen setzt er sich ans Elektropiano, das ihm ein Kollege geschenkt hat, und übt mittels Computer-Lernprogramm Melodien ein. 

«Nebst den täglich 4–6 Stunden Volleyball bleibt noch viel Zeit übrig. Eigentlich bin ich als Profi weniger ausgelastet, als ich gedacht habe. Da brauche ich auch noch etwas für den Kopf», meint der ausgebildete Netzwerkinformatiker, der sich zwischendurch mit digitalen Projekten beschäftigt. Und auch ein Entspannungsritual hat einen festen Platz: Zusammen mit Volleyballkollegen aus der Schweiz spielt er öfters das Echtzeit-Strategiespiel «Dota», wo Fünfergruppen gegeneinander antreten. «Das geht auf die Zeit bei Näfels zurück, wo wir jeweils im Bus gespielt haben», erklärt Giger. Und so verabredet er sich in einem Gruppenchat öfters mit seinen ehemaligen Näfelser Teamkameraden bzw. Nationalteamkollegen – wie etwa Joel Roos, Sämi Ehrat, Marc Walzer oder Jakub Radomski – zu diesem Onlinespiel. Soviel (virtueller) Heimatkontakt muss sein.

Noch lieber wäre Reto Giger natürlich, wenn seine Freundin Stefanie Rügge, NLB-Passeuse bei Schönenwerd und Primarlehrerin im aargauischen Sulz, ihn etwas öfters besuchen könnte. Virtuell, wenigstens kann sie an den Spielen dabei sein: via Code für den TV-Sender Polsat Sport, der praktisch alle Spiele von Radom live überträgt.

Ein Schweizer im Land des Volleyballweltmeisters. Was war zu Beginn am Schwierigsten?

Der Druck hier ist schon viel grösser. In der Schweiz musst du zwar auch gewinnen, aber hier sind die Ansprüche an uns höher. Es wird gnadenlos Leistung gefordert. Und wenn du nicht lieferst, hörst du es von den Fans, vom Trainer, vom Präsidenten, von den Sponsoren. Einmal wurde ich eingewechselt und habe gleich einen Fehler gemacht. Da wurde ich sofort wieder ausgewechselt und musste mir vom Trainer «was» anhören. Es wird erwartet, dass du keine Fehler machst beziehungsweise Fehler wegstecken kannst. Es kam auch schon vor, dass sich unser Fanblock mit Sprechgesängen über die Leistung des eigenen Teams beklagte. Zum Glück verstehe ich nicht alles...

Also musst du vor allem mental sehr stark sein?

Ja, am grössten war die mentale Anpassung. Ich weiss noch, wie ich vor dem ersten Spiel weiche Knie hatte. Aber inzwischen kann ich mit diesem Druck, dieser Atmosphäre ziemlich gut umgehen und ich bin viel abgeklärter und abgehärteter geworden. Und ich liebe enge Spiele, wo es um alles geht, auch auswärts. Die vielen Zuschauer und Zuschauerinnen, der permanente Lärm der Fans, das pusht mich.

Und ich habe schnell gemerkt, dass ich beispielsweise mit meinem Sprungservice auch hier bestehen kann. Allerdings muss ich mir hier zuerst ein Renomee aufbauen. Die Passeurtechnik habe ich, und im Europacup und mit dem Nationalteam konnte ich einige internationale Erfahrung sammeln. Aber Dejan Vincic, unsere Nummer 1 auf der Passeurposition, hat halt schon an viel besseren Turnieren teilgenommen (a.d.R. EM-Silber 2015 mit Slowenien, World League).

Was gibt es sonst noch für Unterschiede?

Hier sind die Strukturen viel besser ausgebaut, alles ist geregelt und ich kann mich voll auf den Sport konzentrieren. In jedem Training ist die Physiotherapeutin dabei – ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne war. So ist auch mein Fussproblem verschwunden. Wir haben einen Fitnesscoach, der immer ein geführtes Warmup leitet, was eine sehr gute Vorbeugung gegen Verletzungen ist. 

Besonders ist auch, dass nicht nur an den Spielen, sondern auch in jedem Training die Einzel-und Teamstatistiken geführt werden. So konsultiert der Trainer zwischendurch die Zahlen und sagt zum Beispiel: «Hey Jungs, im Moment sind wir bei 30% Fehlern im Angriff, das müssen wir sofort herunterschrauben, riskiert nicht so viel.»

An allen Meisterschaftsspielen gibt es die Video-Challenge, was ich sehr gut finde. 

Auch neben dem Feld ist sind wir gut umsorgt. Ich habe eine schöne Wohnung, ein tolles Auto, in den guten Restaurants der Stadt gibt es Rabatt für die Spieler und vieles mehr. Und vor Saisonbeginn wurde allen Spielern ein Massanzug geschneidert, den wir bei offiziellen Gelegenheiten tragen müssen.

Wie ist es überhaupt zu diesem Engagement gekommen?

Ich habe letztes Jahr im CEV Volleyball Cup mit Näfels gemerkt, dass nicht Welten zwischen uns und den europäischen Teams liegen – auch nicht zu einem russischen Spitzenteam wie Ugra Surgut. Da habe ich gut gespielt und erstmals gedacht, ich könnte es auch international schaffen. Nach dem abgeschlossenen Informatikstudium war der Zeitpunkt ideal. Mario Motta, unser Naticoach, hat mich auch ermutigt und mir zwei gute Manager empfohlen. So nahm mich Massimo Tomalino von der Volley Pro Agency unter Vertrag. Schon bald bekam ich Angebote aus Frankreich, Deutschland, Estland, Polen und auch Italien, von Tonno Callipo, aus der ersten Division. Aber da hätte ich die ganze Saison nur die Bank gedrückt. Und so entschied ich mich für Radom, den polnischen Klub, der sich gleich hinter den absoluten Topteams einreiht. 

Ein indirekter Niveauvergleich Schweiz – Polen ist schwierig. Kannst du es trotzdem versuchen?

Ich denke, Amriswil könnte in dieser Liga sicher mitspielen, vielleicht so um Rang 10 herum, und würde nicht absteigen. Umgekehrt würde das B-Team von Radom, also die zweite Sechs, wohl unter den ersten drei Mannschaften in der Schweiz mitmischen.

Du bist 27 Jahre alt und erstmals Auslandsprofi. Was für Zukunftsgedanken machst du dir?

Ich kann mittlerweile seit sechs Jahren vom Volleyball leben und konnte so mein Studium finanzieren. Nun stellt sich mir die grundsätzliche Frage, ob ich die nächsten paar Jahre voll auf Sport setzen soll. Für mich als Passeur kommt jetzt das beste Alter. Das Profileben hat Vor-und Nachteile. Mir gefällt es gut, aber ich vermisse natürlich die Freundin, die Familie und die Freunde. Die Alternative dazu wäre, in der Schweiz als Informatiker zu arbeiten und Volleyball zu spielen. Aber zwei, drei Jahre kann ich mir das Profileben schon noch vorstellen.

Volleyballbegeisterung in Polen

62’000 Zuschauerinnen und Zuschauer strömten 2014 zum WM-Eröffnungsspiel zwischen Polen und Serbien ins Warschauer Nationalstadion. Diese unvergleichliche Volleyballbegeisterung in Polen ist historisch fest verankert: Der Olympiasieg 1976 in Montreal (3:2 gegen Russland) war der Katalysator und wirkt bis heute nach. Und weil Polen bei den Männern zuletzt zweimal in Folge Weltmeister geworden ist (2014 und 2018) und auch die Junioren den WM-Titel geholt haben, ist das öffentliche Interesse an Volleyball immens.

Der TV-Bezahlsender Polsat Sport beispielsweise überträgt je Meisterschaftsrunde fünf (!) Partien live. Bei 13 Teams in der Plusliga kommen also pro Spieltag zehn in den Genuss einer Live-Übertragung, was die Teams für den Werbemarkt entsprechend interessant macht. Um optimale Sendezeiten – bei täglich bis zu drei Männer-oder Frauenspielen – zu gewährleisten, ist der Spielplan nur eine grobe Richtlinie und kann jederzeit kurzfristig umgestellt werden. Die Zuschauerzahlen für normale Meisterschaftspartien liegen je nach Klub zwischen 1’500 und 6’000, während ein Playoff-Final oder eine Champions League-Partie in Grosshallen bis zu 16’000 Zuschauerinnen und Zuschauer anziehen.

Bezüglich Budgets der Klubs gibt es grosse Unterscheide: Während Radom, Reto Gigers Klub, mit rund einer Million Schweizer Franken auszukommen hat, bringen es die Spitzenklubs auf etwa 6.5 Mio. Franken. Das ermöglicht, dass mit Ausnahme von Michal Kubiak (Japan) alle aktuellen polnischen Nationalspieler in der eigenen Liga gehalten werden können und nicht den Verlockungen der russischen Liga erliegen, wo die besten Ausländer fast das Dreifache dessen verdienen können, was ein Nationalspieler in Polen erhält, nämlich bis zu 350’000 Franken.